Spurlos
Er muss liegen. Bis zum Ende. Er wird nicht mehr aufstehen. Das weiß er.
Seit Wochen das sture Blau des Himmels über der immerkühlen Marmorfensterbank.
Er kann das Buch, das er lesen will, nicht mehr halten. Die Kraft reicht nicht
für das Gewicht aus Papier. Er reißt die Seiten heraus und liest sie. Danach
zerreißt er sie in kleine Stücke und steckt sie nacheinander in den Mund. An
Worten ersticken. Einmal am Tag: Carla. Ihre Fröhlichkeit tut ihm weh, weil er
weiß, dass sie ihr weh tut. Bald wirst du mehr Zeit haben, sagt er. Dann
regiert das Entsetzen in ihren Augen. Nur kurz. Sie fängt sich. Jedes Mal fängt
sie sich wieder. Und er möchte doch nur, dass sie stürzt. Jeden Tag neue
Blumen. Der Geruch bohrt sich durchs Zimmer und lässt für nichts Platz. Der
Geruch legt sich auf die Sätze, die er liest, wenn Carla gegangen ist. Das
Fenster soll geschlossen bleiben, sagt er immer wieder. Der Sommer: heiß und
still. Alle müssen die Schuhe ausziehen. Er kann die Geräusche der Schritt! e
nicht ertragen. Er hat darum gebeten, dass sie die Bilder von den Wänden
nehmen. Das sture Blau des Himmels und das brechende Weiß der kahlen Wände.
Einmal in der Woche empfängt er seinen Biographen. Ein hochsinniger Mann
- auf Strümpfen - die Brille zu klein im großschwitzigen Gesicht. Sie suchen
Bilder aus. Die Vergangenheit wird korrigiert. Er liest Entwürfe des eigenen
Lebens und meldet Bedenken an. Auch die Ärzte: auf Strümpfen. Leise sprechen
sie auf ihn ein. Gleichbleibende Prognosen. Man hat aufgehört, ihm Mut zu
machen. Wenn die Ärzte kommen, verlässt Carla das Zimmer, immer mit einem
Gesichtsausdruck, als sei ihr gerade eingefallen, dass sie etwas Wichtiges
erledigen müsse.
Seit vier Wochen hat er das Bett nicht mehr verlassen. Sie schieben ihm
eine Pfanne unter. Danach hängt ein unerträglicher Gestank im Zimmer, den sie
mit Spray bekämpfen. Das Fenster bleibt geschlossen. Nachts ziehen sie ihm
Windeln an. Ich kehre zurück zu meinen Anfängen, hat er vor einer Woche auf
einen Zettel geschrieben. Sie füttern ihn. Sie haben ihm ein Radio gebracht.
Jeden Tag gegen fünfzehn Uhr ruft er eine Schwester: die muss das Radio
einschalten. Sie muss das Rauschen finden, das zwischen den Sendern ist. Das
will er hören. Nichts sonst. Eine Stunde lang. Dann kommt jemand - ungefragt -
und schaltet das Radio wieder ab. Er will keine Stimmen hören und keine Musik.
Beides erinnert ihn an das Leben. Am Fußende des Bettes die Kamera, die jede
seiner Regungen absaugt. Ein gläsernes Auge, das nicht aufhört, ihn
anzustarren. Auch nachts. Nur wenn Besuch kommt, erblindet es.
Die Nächte sind das Schlimmste. Es gibt keinen Schlaf, nur ein seichtes
Wegsinken. Das Warten regiert sein Denken. Er wird nie begreifen, dass es einen
Augenblick geben muss, der unwiderruflich der Letzte sein wird. Sie werden sein
Bett aus dem Zimmer rollen und die Kamera abbauen. Sie werden das Zimmer
desinfizieren, und neu belegen. Und der nach ihm kommt, wird nichts wissen von
diesem langen Abschied.
Manchmal nachts denkt er an das Haus - an Carla - an den Garten und an den
Geruch von Schweinen, der sich an schwülen Tagen wie ein schweres Parfum auf
die Landschaft legte. Als Carla vor fast zehn Jahren gesagt hatte, dass sie
jetzt bald zu dritt sein würden, hatte es auch nach Schweinen gerochen. Und
während der Herbst die Bäume entkleidete, war der Carlabauch immer größer und
größer geworden. Er hatte im Garten fotografiert: sie hatte ihren Biafrabauch
im Gegenlicht der Linse angeboten. Später dann hatten sie aus dem Krankenhaus
angerufen und mitgeteilt, dass alles gut gegangen sei. Er war im Auto
hingefahren und hatte sich diesen kleinen Mensch angeschaut, der sein Leben aus
allen Bahnen werfen sollte. Es hatte auch nach Schweinen gerochen, als Anna
eines Tages aus dem Haus gelaufen war und er das Geräusch der schreienden Bremsen
gehört hatte. Dann sieht er den fleckigen Asphalt, und es reißt ihm das Denken
in Fetzen...
Niemals mehr hat er danach eine Zeile geschrieben. Kein Wort verlässt
diesen Kopf. Sein Leben ist zu einem nicht zu stopfenden Loch geworden. Er ist,
glaubt er, an einer Kreuzung falsch abgebogen und findet den Weg zurück nicht
mehr. Sie haben nie darüber gesprochen, wer die Türe hätte abschließen müssen.
Sie haben nie mehr zurückgefunden in etwas, das man Leben nennen könnte.
Seitdem er hier liegt, ist das Leben etwas Messbares geworden - etwas,
gegen das man sich nicht mehr wehren muss. Manchmal nachts sieht er Anna, wie
sie die Hand nach ihm ausstreckt und ihn anlächelt.
Möglicherweise ist B. eines natürlichen Todes gestorben. Die
Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen. Die Leiche wies zumindest
keinerlei äußere Spuren auf. Ein Abschiedsbrief wurde allerdings auch nicht
gefunden. B. muss mindestens 4 Wochen tot in seiner Wohnung gelegen haben.
So viel ist anhand der bereits weit fortgeschrittenen Zersetzung des Leichnams
zu sehen. Unerklärlich ist auch der Umstand, dass sich am Fußende des Bettes
ein Stativ mit einer Kamera befand, die allerdings zu keiner Zeit in Betrieb
gewesen ist.
Heiner Frost
Erstellt: 23.08.2000, letzte Änderung: 24.07.2005