Zehn Minuten bis zum Konzert. Der Saal ist leer, die Band konzentriert. Letzte Absprachen. Sprachwirrwarr. Francesco braucht es in Englisch. Jens übersetzt. Ohnehin wird Englisch für die nächsten 70 Minuten die Sprache der Wahl sein. Rolands Englisch ‘hat a bisserl oa Schmäh’. (Österreich spielt Bass.) Die Bodyguards sitzen in der letzten Reihe. Sie tragen keine Sonnenbrillen. Sie tragen Grün. Jaily Blues. Konzert im Klever Knast.
Die Band probt dreimal die Woche. 90 Minuten sind es jedesmal. Die Jungs sind erst seit zwei Monaten ein Team. Nicht eben viel, wenn es ums Improvisieren geht. Geprobt wird tief unten im Anstaltskeller. Schalldicht verpackt.Heute werden sie beweisen, dass sie fürs Obergeschoss taugen. So oder so. Gespielt wird in der Anstaltskapelle. Unterm Dach. 48 Zuhörer sind angemeldet. Auch der Chef ist da. Der begrüßt das Publikum und wünscht viel Spaß mit Daily Blues. Das Plakat hatte einen Druckfehler: Sie heißen Jaily Blues. Was jetzt kommt, ist Programmmusik der besonderen Art, denn hinter Gittern ist jeder Titel eine Botschaft. Statt Bier und Zigarette: 'What a day for a daydream', und das Quartett brennt ab Sekunde eins.
Es rockt unterm Anstaltsdach. Francesco gibt den Ton an. Der Italiener ist Gitarrenlehrer. Im wirklichen Leben. Jetzt sitzt er wegen Be Te Emm. Betäubungsmittelvergehen sind im Klever Knast ein ziemlich populärer Aufenthaltsgrund. Francesco spielt sein eigenes Instrument: Fender Stratocaster. Er produziert genau den Sound, der Gitterstäbe ansägen kann.
Er schaltet die Band. Er gibt die Einsätze – die Tempi. Er weiß, dass er gut ist. Seine Musik fliegt weit. Alles, was ihn von einem Rockgitarristen unterscheidet, ist sein Stuhl. Ein Clapton sitzt nicht. Aber Francesco rockt auch vom Stuhl aus beinhart oder butterweich. Seine Bodencrew unterstützt ihn nach Kräften. Roland pflügt mit ruhigem Bass den Boden und Norbert sieht nicht nur so aus, als könnte er bei den Allman Brothers anfangen: Sein Schlagzeug macht jedes Stück zur Landebahn: Kommt runter, Jungs — Platz is' genug!
Mit dem zweiten
Stück klopfen sie — irgendwie passt es ja zum Austragungsort —
an
die Himmelspforte. ‘Knocking on heaven's door’.
Dann schaut
Hendrix vorbei: ‘All along the watchtower’, und
schon
wieder wird der Text auf der anderen Seite der Stäbe zur
Botschaft: There must be some kind of way out of here. Francesco hat
seine Truppe im Griff. Und seinen Hendrix auch. Er fetzt sich durch das
Stück. Norbert und Roland ziehen mit Jens. Stimme spendiert den
Blues.
Vorher, im noch
leeren Saal, hat Francesco mal eben kurz einen Bach übers
Griffbrett geschoben. Bourée aus der e-moll Lautensuite und
danach: ‘Jesu, meine Freude’. Jetzt ist Hendrix
seine
Freude. Die Fender arbeitet sich am Watchtower entlang. Für
eine Band am Anfang haben die Jungs viel zu sagen, und das Publikum
geht mit: Am Wachturm entlang, zur Himmelstür — es ist fast
ein
bisschen, als wären sie alle nicht hier — auf der falschen
Seite
der Gitterstäbe.
Das Publikum ist überwiegend jung. Die da sitzen, könnten fast alle Hendrix' Enkel sein. Aber die Stücke kennen sie. Auch der Rock hat seine Klassiker. "Can't find my way home", singen Jens und Francesco im Duett, und — Rock hin, Roll her — jetzt liegt ein Hauch von Trauer in der Luft. Die Musik weint, aber: Die Töne kannst du nicht einsperren. Die fliegen raus durch die vergitterten Fenster. Die sie spielen, müssen bleiben. Das ist der Blues. Die Band legt nach: ‘With a little help from my friends’ und ‘Johnny be good’. Dann: ‘Stormy Monday’. Francesco serviert den Blues als Hauptgericht, und zum Nachtisch schießen sie auf den Sherif. Am Schluss: Bekenntnis und Hoffnung in einem: ‘Born to be wild’. Das sind sie alle hier.
Nach dem letzten Ton ein Abschiedsgruß vom Sänger. "Kommt gut nach Hause", sagt er. Sie haben es ja nicht weit bis in die Zellen, aber sie wollen eine Zugabe und bekommen sie auch. All along the Watchtower. Da ist er wieder — der Satz: There must be some kind of way out of here. "Somewhere over the rainbow", möchte man antworten, aber das ist eine andere Baustelle.