Waage

Das Gewicht der Worte

Aquarium

Im Wohnzimmer, rechts neben der Tür, steht das Aquarium und wirkt wie die lautlose Erinnerung an ein anderes Leben — ein Leben, in dem Ilja Berufstaucher war. In Moskau. Links von der Tür hängt eine Gitarre an der Wand. Schräg darunter das Klavier mit den kyrillischen Buchstaben. Die Gitarre sieht aus, als hätte sie schon lange geschwiegen ...

Taiga und Kuckucksuhr

Ilja hat das, was man eine Radiostimme nennen würde: Don Kosaken — tiefes Register. Zusammen mit seinem russischen Akzent verströmt dieser Klang das Aroma von Borschtsch und beleuchtet Taiga-Szenarien vor dem geistigen Auge.

So kann man sich täuschen. Wie die Amerikaner in jedem Deutschen einen potentiellen Lederhosenträger sehen, der in der Wohnstube Kuckucksuhren baut und sich danach von Eisbein mit Sauerkraut ernährt (das Bier kommt natürlich aus dem Wasserhahn), so stellt man sich deutscherseits unter einem Russen eine Pluderhosen und Zobelmütze tragende Ivan-Rebrov-Kopie vor. Bildgewordener Unsinn, der in keine Wirklichkeit passt.

Das dritte Wasser

Iljas Frau ist Russlanddeutsche der dritten Generation. „In Russland sagt man: Das dritte Wasser“, erklärt Ilja — „das ist der Punkt, an dem die Suppe dünn wird.“ Als er und seine Frau sich entschließen, nach Deutschland zu gehen, haben sie zwei Töchter (Anna und Alexandra), und Jelena ist schwanger. Irina kommt in Deutschland zur Welt.

Das Gewicht der Worte

Vor fünf Jahren kommt der gebürtige Moskauer mit seiner Familie nach Deutschland. Daheim war er Tauchlehrer. Aber was ist schon daheim? „Heimat“, sagt Ilja, „ist nicht so sehr an einen Ort gebunden. Heimat — das sind die Menschen, die du liebst, die du achtest. Heimat, das sind die Menschen, die dich lieben und die dich achten.“

Als er „rüber macht“, steht im Hintergrund das Mantra: „Zurück kannst du immer.“

Ilja ist Moskowiter. Mit dem Flugzeug kommt er - zusammen mit einer Gruppe von anderen Russlanddeutschen -  nach Düsseldorf. Der erste Kontakt mit dem Leben: Ein Gepäckwagen. Alle haben sie Geld dabei. Dollars, Deutsche Mark. Alles in Scheinen. Keiner hat die Mark für den Gepäckwagen. Ein knappes Hundert Menschen auf der Suche nach einem neuen Leben. Ein knappes Hundert Menschen, für die die Sprache eine undurchdringliche Wand ist. Das Gewicht der Worte.

In der Turnhalle

Die ersten Wochen lebt Ilja mit seiner Familie „im Lager“. Bramsche zuerst. „Da wohnten wir zwei Wochen lang mit circa 400 Menschen in einer Turnhalle auf dem Gelände einer alten Kaserne. Das Gelände war mit Stacheldraht umzäunt, aber alle Tore waren offen. Ein eigenartiges Gefühl.“

Danach geht es nach Unna Massen. Jetzt hat jede Familie ein eigenes Zimmer mit einer winzigen Nasszelle. „Unser Zimmer war unter dem Dach. Es gab viel Schrägen. Aufrecht stehen konnte ich nur an der Tür“, erinnert sich Ilja, der 1,93 Meter misst. Gegessen wird im Speisesaal. Abends „arbeiten alle an Formularen.“ Schon für manche Deutschen sind Formulare ein Kreuzweg aus Worten. „Wenn du kein Wort Deutsch sprichst, ist die Sache nicht einfach.“

„Hände hoch!“ und Formulare

Alles funktioniert nach dem Motto: Jemanden kennen, der ein bisschen was weiß. Von den vielen Menschen in Unna Massen können ein paar Ältere Deutsch. Die können helfen und werden schnell zu Alphamenschen. Wo sie anstehen, bildet sich hinter ihnen eine lange Schlange.

Was kennt ein Russe an deutschen Worten? ‘Hände hoch!’ und: ‘Achtung!’ „Das hat man in Filmen gehört — Kriegsfilmen meist“, erklärt Ilja. Was kennt ein Deutscher an russischen Vokabeln: ‘Dawai’ und: ‘Raboti.’ ‘Schnell’ das eine — ‘arbeiten’ das andere. Wörterszenarien aus Kriegsfilmen, in denen neue Heimat nicht vorgedacht ist. Das gleiche Stummelwissen auf beiden Seiten. ‘Prost’ hier, ‘Nasdrowje’ da — Wortweisheiten aus der Touristenfiebel. Jetzt helfe ich mir selbst. 

Ilja hat sich selbst geholfen. Die Sprache beackert. „Du bist wie behindert, wenn dir im wahrsten Sinne die Worte fehlen. Dann kommt die Phase, in der du für die Menschen eine Art Hund bist. ‚Er versteht jedes Wort, aber er kann nicht sprechen.’ Auch das geht vorbei." Heute versteht Ilja jedes Wort und kann auch sprechen. Sprechen macht gefährlich. Sprache kann Willen bekunden. Eigenen Willen.

Das Fotoalbum

In Moskau war Ilja Sportpädagoge und hat viel mit Jugendlichen gearbeitet — ihnen das Tauchen beigebracht. Wenn er von seinem russischen Leben erzählt, leuchten seine Augen. Die Vergangenheit wird in einem Fotoalbum lebendig. Der Titel des Albums: 'Ein Film, der Leben heißt'.  

Längst ist Ilja kein Sprachflüchtling mehr. Wenn er erzählt, entstehen Bilder. Da ist nicht einer, der um Worte kämpft - da erzählt einer, der längst die andere Sprache beherrscht und nicht nur mit Überlebenswissen hantiert, sondern Träume, Ängste, Befindlichkeiten auszudrücken gelernt hat. Längst hat er angefangen, Geschichten zu schreiben — Geschichten aus seinem anderen Leben — dem Leben, in dem er glücklich war.

Die Rückseite der Tage

Unglücklich ist hier nicht, aber ohne Arbeit. „Eigentlich“, sagt Ilja, „eigentlich ist es gar nicht gut, wenn du die Sprache beherrschst. Was viele Arbeitgeber suchen, ist das, was ich einen ‘mitteldummen Iwan’ nennen würde. Die suchen jemanden, der groß ist und gesund — jemanden, der weiß, wo er graben muss, wenn sie ihm die Schaufel in die Hand drücken. Jemanden, der Befehle versteht und ansonsten keine Fragen stellt.“ Ilja versteht Befehle, aber er kann auch Fragen stellen. So erlebt er die Rückseite der Tage.

Mit der Gesundheit gibt es Probleme — der Rücken: Den hat er ‘beim Miltitär gelassen’. „Manchmal würde ich auch lieber hart arbeiten können. Das geht nicht. So habe ich gelernt, vor allem mit dem Kopf zu arbeiten.“ Nicht zu arbeiten - das ist auch ein Stück verlorener Selbstachtung. Was Ilja möchte: Nützlich sein. Er träumt von einem Job, in dem er sein erstes Leben anwenden kann. Als Tauchlehrer wird er hier nicht arbeiten können. Er müsste seine Ausbildung erneuern. Das Geld dafür hat er nicht. Aber vielleicht gibt es ja eine Firma, die in Deutschland und Russland arbeitet — die einen wie ihn brauchen kann - einen, der sich auskennt in beiden Welten und der mit den Sprachen umgehen kann.

Der Punkt, an dem eine unrichtige Vorstellung als Bild im Kopf einrastet, ist der Augenblick, in dem das Vorurteil entsteht

Ilja versteht nicht, dass ihm oft Angst und Misstrauen entgegen gebracht wird. „Du merkst das sehr schnell, wenn du mit Menschen zusammen kommst. Du merkst es, bevor die es selbst wissen“, sagt er.

Aus dem Ilja, der gerade noch mit leuchtenden Augen von seinem früheren Leben erzählt hat, ist jetzt ein traurig blickender Ilja geworden — einer, der nicht mehr Russe ist und auch noch kein Deutscher. Einer, der schwer einzuordnen ist. Keine Rebrov-Kopie mit Zobelmütze und Wodka-Flasche in der Hand. Eher einer, von dem mancher denkt: Dem begegnest du besser nicht im Dunkeln. Eher einer, der aber eben nachts im Dunkeln vielleicht der einzige wäre, der eingreifen würde, wenn es hart auf hart käme. Nachdenklich sitzt er da. Melancholisch.

In Russland hat er das getan, was man - hier wie da - „Kinder von der Straße holen“ nennt. Er ist mit den Jugendlichen losgezogen — hat ihnen das Tauchen beigebracht - eine Lebenseinstellung vermittelt. Lachende Kinder im Fotoalbum legen Zeugnis ab. Ilja ist einer, der sich Gedanken macht — einer, der ein Ziel braucht, einer, der nicht einfach aufstecken will.

Die Sprache ist das Blut in den Adern der Kultur

Er arbeitet an seiner Geschichte. Er schreibt sie auf. Satz für Satz. „Die Sprache“, sagt Ilja, „ist das Blut in den Adern der Kultur. Ohne die Sprache gibt es keine Kultur.“ Das Gewicht der Worte.

Freunde haben ihm gesagt: „Zeig das jemandem. Das ist gut.“ So habe ich Ilja kennen gelernt. Ein bisschen erinnert er mich an die Fische im Aquarium. Irgendwann geht ihnen die Erinnerung an das Meer verloren.


Heiner Frost