Andreas Daams:

H. Frost - Komponist

Am Anfang ist ja der Tod. Früher ein Sensenmann, heute eine Variable in versicherungsmathematischen Berechnungen, so ist das Gefühl, mit ihm gegen ihn? zu leben, allen Zeitläuften zum Trotz Ausgangspunkt ernsthafter Kunst geblieben.

Und ernsthafte Kunst ist beileibe nicht totzukriegen. Einer, der damit lebt und gerne auch davon leben würde, ist H. Frost. H Punkt Frost Komma Komponist.

Komponisten gehören in vergangene Jahrhunderte; Jetzt-Musik wird industriell erzeugt und industriell gehört und industriell vergessen. Ein Komponist, der sich auch noch selber so bezeichnet, steht abseits, zum Beispiel am Niederrhein, dort, wo dieser so darniederliegt, daß der große Fluß aufhört, er selbst zu sein der Rhein spaltet sich und fließt derart geteilt durch die echten Niederlande. H. Frost ist also ein Grenzgänger, geographisch gesprochen, und seine Musik die unschätzbare Überlegenheit eines Komponisten beruht darauf, daß es wirklich seine ureigene Musik gibt steht ebenfalls an einer Grenze. Sie ist Beschäftigung mit dem Tod, nein, sie ist Ausdruck dieser Beschäftigung; wer denkt schon darüber nach, und wer kann das auch noch in Klänge fassen? Und/Aber: wie hört sich das an?

Ein Beispiel.

Lenzenhorst, ein Zyklus für Altstimme und Klavier. Der Komponist ist zu früh am verabredeten Treffpunkt und nutzt die Zeit für einen Spaziergang über den Friedhof. Gepflegte niederrheinische Friedhöfe! Die Lichter werden ewig leuchten und die dicken, krummen Frauen ewig die Begonien auf den Gräbern ihrer Männer gießen! Dicht stehen die Eriken, dort drüben verrotten die Kränze. Die Kleinbürger leisten sich Marmortafeln erst, wenn sie tot sind. Auf einer nun steht: Lenzen, Horst (1921 - ....).

Mag Horst Lenzen auch gelebt haben und gestorben sein, so gebiert sein bloßer Name nun ein neues Wort, das sich im Kopf des Komponisten festsetzt: Lenzenhorst. Wer in der deutschen Sprache lebt und wessen Sinn für Poesie noch nicht erschlagen ist vom Allzu-Deutlichen, Allzu-Großen und Allzu-Dummen, der wird vielleicht ermessen können, was die Zusammenziehung der beiden Namensbauteile in einen einzigen bedeutet. Lenzenhorst, das ist Erde, das ist Dämmerung, das ist Weite. Vielleicht ist es auch Himmel, Sonnenaufgang und eine Baumflucht im Regen. Wer weiß. Ein neues, neuentdecktes Wort: Das ist eine ganze Landschaft. Das ist Sinn und sinnlich.

Eigentlich ist die Komposition jetzt auch schon geschehen, alles Weitere ist nur noch ein Ausformulieren, eine Sichtbarmachung dessen, was im Kopf des Komponisten geschehen ist.

H. Frost und die Unverwechselbarkeit einer Idee.

Oft spricht man in diesem Zusammenhang von Übersetzungen, als könne ein Gedanke, eine Idee tatsächlich in einem Kunstwerk eine andere Form annehmen und doch dasselbe bedeuten. Doch das ist nicht so. Lenzenhorst zum Beispiel hat eine Menge Faktoren. Da ist der Text, da ist die Musik, da sind die Interpreten, die Räumlichkeiten der Aufführung, die Akustik, die Jahreszeit, die Aufmerksamkeit des Publikums. Die eingehauchte Idee (so ist es: Inspiration) nimmt den Weg über die relative Exaktheit der Notation und die Interpretation der Musiker in das weite Feld des Zufälligen, Unberechenbaren, Banalen. Das Ende: höflicher Applaus.

Und der Komponist? H. Frost gehört zu jenen, die Ideen brauchen, um Musik zu schreiben, nicht Routine. Frosts Musik ist wie ein Herzschlag, so pulsiert sie, und dazu wie ein Herzschlag, den es eigentlich schon gar nicht mehr gibt, den man aber noch zu hören glaubt, während der Monitor schon eine weiße, glatte Linie anzeigt. Der Todgeweihte betrachtet sich von außen, sieht auf das Totenbett hinunter und weiter in die Welt, und da ist der Schmerz. So ist das. Keine monumentale Leidensmusik, kein ironischer Abstand, kein Aufbegehren ist da zu hören.

Fast immer gerät die Frost-Musik so zu einem Endzustand. Das ist natürlich eine Zumutung. Auch lassen sich die gängigen Erklärungsmodelle Neuer Musik nicht recht anwenden. Es geht nämlich weder um die Zerrissenheit der modernen Welt noch um irgendwelche ästhetischen Überlegungen, sondern nur um diesen kleinen Spalt, durch den man es im Kopf des Komponisten ticken hört.

Das Wort Lenzenhorst hat sich übrigens längst verselbständigt. Der Komponist hat es als Titel für einen Roman verwendet. Und auch dort findet man den Spalt: Da gibt es einen kleinen Igel voll von blutgetränkten Zecken, eine Kindheitserinnerung. So wird die Kunst zur Existenz und umgekehrt. So etwas lieben die Menschen bei einem, der hundert Jahre tot ist und trotzdem nicht vergessen. Aber sie verstehen es nicht bei einem, der lebt, bei einem jungen Familienvater gar. Nein, da ist etwas merkwürdig mit diesem Manne.

Kierkegaard spricht von dem Künstler als von einem, der an dem ihm innewohnenden Schmerz so leidet, daß er schreien muß; doch sind seine Lippen so geformt, daß den Menschen der Schrei wie Musik klingt. Frosts Musik spürt man die Herkunft aber noch an. Hier könnten diejenigen, die sich dazu berufen fühlen, Psychologen und Musikwissenschaftler etwa, erstaunliche Entdeckungen machen. Vermutlich ist es gut, daß sie es nicht tun, denn so bleibt die Musik, wie sie ist, nämlich als Ausdruck von Frosts Persönlichkeit und als Ausdruck von Verletztheit und einem Ich, das sich weit zurückgezogen hat und sich zugleich weit öffnet. Ein überhitztes Krokodil mit weit geöffnetem Maul, reglos und furchteinflößend.

Die Angst des Hörers, gefressen zu werden. Das nennt man Kunst, glaube ich.


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