Erwartung

Wie sie alles wegwischt - mit einer einzigen Geste. Er schweigt es in sich hinein. Zwecklos: darüber zu reden. Sie versteht das nicht. Er richtet sich an ihr aus, die sich an ihm ausrichtet. Das kann nicht funktionieren. Sie richtet sich an ihm aus, der sich an ihr ausrichtet: das auch nicht. Da sitzen sie - jeder mit einer Erwartung. Unbenannt. Wenn zwei zusammensitzen mit einer Erwartung, kann nichts dabei herauskommen. Nicht einmal dann, wenn darüber gesprochen wird. Wenn er eines gelernt hat, dann das. Erwartungen erhöhen den inneren Druck auf ein Maß, das die Wörter zähflüssig macht.

Den ganzen Tag hat er an sie gedacht: gut gedacht. Er hat an Umarmungen gedacht - vielleicht auch an mehr. Er hat an Gespräche gedacht. Man sitzt zusammen und redet. Istdochegalworüber. Und je mehr er davon träumt, desto stiller wird es in ihm. Dann kommt er nach Hause und seziert ihre Gesten. Und weiß gleich, dass nichts werden wird aus seinen Träumen. Sie haben beide ihr getrenntes Leben im Kopf und treffen sich abends im selben Haus, um es weiterzuleben. Mit den Jahren sitzt jeder da und wartet auf den Fehler des anderen. Wenn man schon über sonst nichts reden kann, dann am besten über die Fehler des anderen. Und die sind nichts anderes als die fehlgeleitete eigene Erwartung. Jeder Fehler beim Gegenüber ist mal ein eigener Wunsch gewesen.

Sie essen gleichzeitig. Sie essen nicht zusammen. Sie befinden sich zur selben Zeit am selben Ort: schweigend. Wartend. Sezierend. Und jeder denkt darüber nach, was der andere wohl erwartet. Das ist wie Sand im Getriebe. Das bremst alles aus. Sprechen ist Zufall oder die Unfähigkeit: mit der Stille umzugehen. Er kommt um acht nach Hause. Sie sagt, dass sie um 10 ins Bett muss. Sie sieht müde aus. Für ihn existiert plötzlich die Zeit zwischen acht und elf nicht mehr. Diese Zeit ist mit einem Satz gestrichen. Geteilte Unzeit ist das. Die Zeit ist nicht mehr nutzbar - kann gestrichen werden. Und wenn er nicht spricht, wird sie auch nicht sprechen. Sie will nicht stören. Er will gestört werden. Wenn sie ihn stört, wird er sich beschweren. Das weiß sie und stört ihn nicht. Es stört ihn, dass  es sie stört. Es stört ihn, nicht gestört zu werden. Er will ihr Schweigen nicht, nur, weil er schweigt. Aber durch sein Schweigen verstummt sie mit. Das weiß er. Das gefällt ihm nicht. Wenn er Unterhaltung möchte, muss er reden. Niemals wird sie anfangen. Wenn er sie fragt, warum sie nicht spricht, wird sie sagen, dass er so aussieht, als wolle er nicht sprechen. Er weiß nicht, wie er aussieht. Aber wahrscheinlich sieht er so aus, als wolle er nicht sprechen. Wahrscheinlich spricht sie deswegen nicht.

Er will sie berühren. Er kann nicht. Die Angst vor der alles zunichte machenden Geste. Er zieht sich zurück. Er gibt die Existenz auf. Das wird es sein, was sein Aussehen beeinflusst. Das wird es sein, was sie verstummen lässt. Am Schluss sitzen sie beide in ihren Zimmern. Es nagt an ihm. Er muss jetzt hingehen und sprechen. Aber wenn er jetzt hingeht und spricht, wird er Dinge sagen, die er gar nicht sagen wollte. Er wird Gift ausstreuen. Er wird hingehen und sie fragen, warum sie nicht mit ihm spricht. Er wird fragen, ob etwas los sei mit ihr. Sie wird sagen, dass sie den Eindruck nicht loswerden könne, dass etwas los sei mit ihm. Sie werden die Bälle hin- und herspielen, und er wird laut werden - vielleicht. Er wird ihr vorwerfen, dass sie neurotisch ist. Sie wird anfangen, mit den Fingern durch die Haare zu fahren. Er wird sagen, dass er das nicht aushalten kann. Er wird sagen, dass ihn das wahnsinnig macht. Sie wird sagen, dass er - vor zehn Jahren vielleicht - einmal ungefähr folgendes gesagt hat. Er wird sagen, dass es unwichtig ist, was er vor zehn Jahren oder mehr oder weniger gesagt hat. Er wird darauf bestehen, seine Meinung ändern zu dürfen. Er wird darauf bestehen, nicht auf ein zehn Jahre altes Bild festgelegt zu werden. Auch nicht auf eines, das vielleicht drei Tage alt ist. Er wird sagen, dass sie falsch zitiert und sie immer weiter in die Enge treiben. Er wird das Gefühl verspüren, sie umarmen zu wollen. Er wird alles daransetzen, sich selber dagegen zu wehren. Er wird nicht ausbrechen. Er wird sagen, dass es anscheinend nichts mehr gibt, über das sie reden können. Sie wird sagen, dass es an ihr liegt, weil sie nicht ankommen kann gegen ihn, wenn er so ist. Er wird erwarten, dass sie gegen ihn ankommt - aber er wird es nicht zulassen.

Er wird plötzlich zu reden aufhören. Es wird still bleiben. Minutenlang. Er wird sagen, dass, wenn es nichts mehr zu sagen gibt, er ja auch wieder in sein Zimmer gehen kann. Er wird gehen. Es wird still sein. Durch die Stille wird er ihr Weinen hören und wie sie ein Kopfkissen darüber hält. Er wird sagen, dass er sich von ihrem Weinen bedroht fühlt - bedrückt - erdrückt. Er wird sagen, dass er besser nichts gesagt hätte, weil es doch immer so endet. Er wird sagen, dass er sich nicht in Luft auflösen kann.

 

 

Copyright: Edition Lenzenhorst 1999