Schweinebraten mit Seeblick

Paradies für zwischendurch

Frau Karg dirigiert das Auto auf den Hof. Von den Balkonen lachen die Geranien. Frau Karg lacht auch. „Grüß Gott“, sagt sie, und Franz fühlt sich gleich zu Hause, obwohl der Dialekt Entfernungen verdeutlicht. Neun Stunden sind sie gefahren. An jeder Raststätte das notwendige Erfinden unnötiger Attraktionen für das gestresste Kind. Franz hat den Urlaub gewünscht, bestellt: angeordnet. „Es ist schön da“, hat er gesagt. „Es wird euch gefallen.“ Marie hat gemeint, wenn Franz ‚schön’ sagt, klingt es fast nach einer Drohung.

Das Dorf hat er gleich am Geruch wiedererkannt. Man vergisst  einen Geruch nicht – auch dann nicht, wenn er vierzig Jahre zurückliegt. Der Geruch ist wie ein Tatoo  in der Franzseele. Natürlich riechen die Dörfer alle gleich, aber Franz will sich einbilden, daß es nur in diesem Dorf diesen Geruch gibt, zu dem er sich seit vierzig Jahren hingesehnt hat. Er hat das nicht gewußt. Jetzt – das Aroma in der Franznase – jetzt weiß er es. Er sucht die Vergangenheit, aber die ist nicht mehr hier. Sie ist irgendwohin abgereist.

Das Holz senkt sich. Seilgeräusch. Sie stehen zu dritt am Krater. A. in der Mitte. Die Männer mit weißen Handschuhen. Die Sonne scheint ins Weihwasser. Es ist wie in einem Film. H. spielt mit. Und schaut zu. Gleichzeitig. Das Holz senkt sich weiter. Sie stehen zu dritt an diesem Krater. H. kann nicht glauben, dass passiert, was passiert. Sie alle stehen schwarz. A. hat nicht geschlafen. Sie sackt zusammen. H. und N. greifen nach ihr. Das Holz senkt sich. Irgendwo drinnen im Holz – mit Perücke und Kostüm: der Mutterrest. Die Männer mit weißen Hanschuhen. Jetzt sind sie fertig. Das Holz ist im Ziel. Weiß fliegen Handschuhe in den Krater. Jetzt werden sie Aufstellung nehmen. Zu dritt. Das Entgegennehmen der Grüße. Unten im Krater: der Mutterrest. Blumen stehen bereit und werden in den Krater geworfen. Eine Blume. Eine Schüppe. Erst duftet es. Dann hört man das Geräusch der Erde auf dem Holz. Im Holz verschraubt: Der Mutterrest. Fest verzurrt. Warum sie wohl das Holz immer verschließen? Vernageln. Verschrauben. Als ob die Reste verschwänden, wenn nicht vernagelt wird. Verschlossen. Verschraubt. Das Geräusch der auftreffenden Erde wie ein Urteil. Die Seile liegen am Kraterrand. Der Weihwassermann macht sich davon – sonnenwärts. A., N. und H. arbeiten die Trauerschlange ab. Man spricht leise. Dann Blumen. Dann Erdgeräusche. Abschied.

Die weißen Handschuhe im Krater verschwinden allmählich unter den Erdwürfen. Am Ende stehen sie zu dritt am Krater und blicken auf das Holz. Tränenverschmiert. H. denkt, dass sie jetzt doch nicht einfach gehen und das Holz im Krater lassen können. Sie müssen dabei stehen und warten. Was, wenn der Mutterrest ans Holz klopft und niemand aufmacht? Die Mutter hat doch immer so Platzangst gehabt und Klaustrophobie gemeint. Jetzt liegt sie eng im Holz. Sie müssen da bleiben. Alle drei müssen sie da bleiben. Zwei könnten vielleicht mit den anderen gehen. Kaffee und Schnittchen sind der Holzmuttergruß an die Hinterbliebenen. Alles hätte fehlen dürfen. Das nicht. Dafür hat man gespart. Dass alle bewirtet werden können, wenn man längst im Holz verschraubt ist. Vielleicht merkt der Mutterrest, dass der faulende Vater gleich nebenan im Holz liegt.

Das ist gerade mal ein halbes Jahr her. Da standen sie zu viert am Kraterrand. Die Mutter längst krebszerfressen. Längst passte die Mutter nicht mehr ins eigene Skelett, und in der Scheide trug sie einen Ring, dass die Blase nicht rausrutschen konnte. So stand sie schwarz am Kraterrand. Allein. Im Holz der Vaterrest. Am Kraterrand Frau, Kinder, Enkel: Wie die Orgelpfeifen. Auch zur Vaterreise: Sonnenschein. Weiße Handschuhe werden mit Erde bedeckt. Das Geräusch auf dem Holz. Die Mutter kann kaum stehen. Sie kann auch kaum sehen. Tränen machen blind und beißen sich in die Wangen. Da wohnt schon die anbrechende Ewigkeit im Holz. Die Mutter stumm weinend, untröstbar verloren in der anbrechenden Einsamkeit. Dazu der Sonnenschein: Wie ein Hohn. Oder wie ein Trost.

Franz hat – schon zwei Monate vor der Anreise – das Geld überwiesen, und die Karg hat – zwei Monate minus drei Tage vorher – angerufen und gesagt, das sei ihr noch nie passiert, dass Gäste (sie sagt „Gäschte“) so zeitig („zeitick“) überwiesen haben. Sie hat sich bedankt und war dabei freundlich zum Franzfamilienanrufbeantworter.

Franzschwester und –schwager sind im Campingmobil unterwegs. Frau Karg hat Franz und das Auto auf den Hof gewinkt. Sie wird natürlich beim Ausladen helfen, sagt sie und hält ein Baby auf dem Arm. Das Kargenkelbaby. Die Franzfamilienwohnung ist unterm Dach – auf Augenhöhe mit lachenden Geranien. Die blühen, als würden sie Geld dafür bekommen. Tourismusförderung, denkt Franz. Er muß dreimal hoch und dreimal runter. Die Mädels haben reichlich eingepackt. Zwei Zimmer, Diele Bad. In einem Zimmer zwei Betten. Im anderen ein Bett, Spüle, Herd, Fernseher. Das wird das Franzzimmer. Damit er abends noch gucken kann. Die Mädels richten sich ein. Marie dirigiert: Das muß hierhin – das dahin. Franz sucht Laptop und Kamera. Die Franztochter hat statt Laptop einmal Kotelett gesagt. „Papa hat sein Kotelett dabei“, sagt die Franztochter. Die Kamera ist da - Franz wird Bilder machen wie im Rausch.

Im Kargstall stehen fünf Kühe – eine hochträchtig. Das Kälbchen wird in den nächsten Tagen kommen. Sagt Frau Karg. Meint Herr Karg. Schätzt Denis. Denis kommt - nebst Eltern  - schon seit Jahren hier in die Ferien und wohnt gegenüber. Morgens hilft er, die Kargkühe aufs Grün zu treiben. Abends hilft er beim Melken. Er kennt sich aus. Er schätzt, däsch dehsch Kälbele bald komme tut. „Mer werdens höre“, sagt er. Die Kuh wird laut schreien, meint er. Auch mitten in der Nacht wird die Kuh laut schreien und keine Rücksicht nehmen auf die Gäschte.

Als Franz nach der dritten Kofferreise wieder oben ankommt, hat Marie mit dem Auspacken angefangen. Sie räumt Lebensmittel in den Küchenschrank. Morgen ist Sonntag. Da sind die Geschäfte geschlossen. Da muss jemand fürs Frühstück sorgen. Marie hat mit der Karg telefoniert und die Umstände geklärt. „Die Karg ist so nett“, hat Marie berichtet. Und die Karg hat gesagt, dass sie desch Frühschtück mitbringe mechte.  Niemand wird Hunger leiden. Das sieht Franz gleich, als der den Küchenschrank inspiziert hat. Auch das Kargbad sieht schon aus wie daheim. Eigentlich muß Franz doch denken, das Kargbad sieht aus wie zuhause. Er denkt schon anders: Daheim, denkt er. Und Grüßgott. Auf den Ortsschildern hier steht „Grüß Gott in ...“. Am Sonntag werden sie eine erste Tour machen. Auf einem Ortsschild wird stehen „Grüßgott in ... „ und dahinter: Paradies für zwischendurch. Welch ein Gedanke. Was muss denn kommen nach dem Paradies für zwischendurch? Jetzt erst einmal: Grüß Gott in ...! Franz und das Daheim-Gefühl. Die Vergangenheitsdusche.  

Jetzt also sind sie angekommen im Geruchsland der Franzjugend. Franz erinnert sich an nicht viel. Sechs oder sieben Mal müssen sie hier gewesen sein, schätzt die Schwester. Das kann Franz nicht glauben. Diese sechs Reisen sind in seinem Kopf zu einer einzigen verschmolzen. Der Oberallgäugeruch. Franz hat bei der Auswahl des Quartiers darauf geachtet, dass Kühe im Haus sind und also ein Misthaufen im Hof. Er hat Marie von dem Franzjugendurlaub erzählt. Marie ist eher seewärts geprägt. Vielleicht ist die Marieseele mit Möwen tätowiert. So wird es sein. Franz ist sich sicher: Es ist wie bei den Graugänsen. Du pellst dich aus dem Ei – pickst dich durch die Schale und was du dann siehst, ist das Seelentatoo. Marie also mit dem Möwendünenbildnis – er mit dem Kuhbergbild. Plus Geruchserinnerung. Die hat er gesucht. Jahre lang. Jetzt, als er das Franzauto auf den Karghinterhof steuert weiß er, dass hier die Franzsehnsucht Erfüllung finden wird. Er spürt, dass seine Augen feucht werden. Jetzt ist er angekommen. Er wird jetzt eine Woche lang ohne Schutzhülle leben. Er wird sich neu tätowieren lassen von den Bergen, den Kühen, den Kurven.
Stundenlang hat die Franztochter nach den Bergen Ausschau gehalten. Dann tauchen sie auf. Kein Schnee auf den kahlen Gipfeln. Marie hat erzählt, dass es Berge gibt, die auch im Sommer den Zuckerhut tragen. Franz hat ergänzt: Alte Berge sind wie alte Menschen. Sie sind oben kahl und haben viele Falten. „Fergbalten“, sagt Franz. „Berfalten“, sagt das Kind. „Schmopfkerzen“, sagt Franz. „Kopf-schmer-zen“, sagt das Kind. „Guut“, sagt Marie. Weiter unten an den Hängen kleben die Märklin-Wiesen. Heuschoberbestanden. Die Kühe mit Glocken am Hals. „Guhklocken.“ „Kuh-glok-ken!“ Franz saugt sich voll mit diesem Lederhosengefühl. Wergbiesen und Hederlosen. Das satte Grün der Bergwiesen vertreibt die schwarze Watte.

Die karg’sche Stimme hat Franz ja schon kennengelernt. Sie hat sich bedankt für vorzeitige Überweisung der Ferienwohnungsmiete. Nicht üblich sei das, erklärt sie bei der Ankunft – auf dem Weg nach oben zur Erstbesteigung der Zweizimmerresidenz. Ihrem Mann hat sie gesagt: „Vonn dene Loit, die wo hoit komme, isch des Geld scho verprasst.“ Eine Woche lang werden Franz und die seinen zwischen den Bergspitzen wohnen, die sich talringsum auftürmen. Franz fühlt den Bergschutz im Aromakabinett. Nach der Ankunft wird eine Ortsbesichtigung vorgenommen. Franz sucht Vergangenheiten auf. Nichts Neues. In seinem Kopf gibt es das Bild eines Hauses, in dem er mit Eltern und Geschwistern seinerzeit gewohnt hat. Kein wirkliches Bild ist das – nur so eine Vorstellung von etwas, das unten drin einen Bäckerladen beherbergte. „Läckerbaden.“ „Bäk-ker-la-den.“ „Guut!“ Sie hatten einen Seiteneingang und wohnten dann in der ersten Etage. Die Franzschwester ist sicher, das Anwesen gefunden zu haben. Franz ist sicher, dass es ein anderes Haus gewesen ist. Es gibt unterschiedliche Versionen von Vergangenheit. Er möchte zurückkriechen in diese Zeit wie unter eine warme Decke in einer kalten Nacht. Alle wollen immer wieder zurückkriechen, denkt er. Er ist sich sicher, dass es so ist. Morgens  werden die Kühe auf die Weide getrieben. Da muß Franz raus und sich mit diesem Ereignis die Seele besprenkeln. Was er hier einatmet, wird ein Jahr halten müssen. Marie hat zugestimmt: Sie werden im nächsten Jahr wieder hier sein. Franz versucht, sich die Zeit vor vierzig Jahren vorzustellen: Er, die Eltern und die Franzgeschwister zwischen den Bergspitzen. Die Heinz Erhardt Zeit. Oder Peter Kraus. Die Welt weiß nicht, wie heil sie noch ist.

Franz ist auf die Zielgerade eingebogen. Er gehört zu diesem Zug von Grauvermummten, die sich davonmachen in Richtung der Toteninsel. Ständig denkt er an diese Fotografien: Soldaten auf dem Weg in Gefangenschaft. Eine schwarzgraue Spirale – aus dem Weiß des Schnees ragend und am unsichtbaren Ende wieder darin verschwindend. Erfranz könnte einer von ihnen sein. Unkenntlich. Der Franzvater ist einer von ihnen gewesen. Jetzt wohnt er im Holz. Gleich neben Kostüm und Perücke. Die Vatermumie. In den Nächten hört er die Vaterstimme. Er erinnert sich nicht an normale Vatersätze. Vielleicht muß er sich hypnotisieren lassen und ausfragen nach normalen Vatersätzen. O. hat ihren Sarg ausgesucht. Sie hat alles vorbereitet. Sei zwei Jahren weiß sie von dieser Reise. Sie wird nicht zurück kommen. Niemals mehr. Sie möchte loslassen können. Noch kann sie nicht. Längst wächst etwas in ihr und saugt das Leben ab. Das Geschwür kämpft gegen die Willen. Es wird siegen. Kein Wille reicht aus.

Franz lebt zwischen den anderen – täglich schlägt irgendwo der Tod ein. Zielgeradengefühle. Die Tage sind längst schwarz geworden. In diese schwarzen Tage kannst du niemand mitnehmen. Längst haben sie dir ein Todesurteil verkündet. In die schwarze Welt wirst du niemanden mitnehmen. Das ist nicht zumutbar. Dieses schwarze Zerren an dir ist längst normal geworden. Was dich früher wöchentlich einmal ansprang, umgibt dich jetzt täglich. Es ist, als hättest du schwarze Watte in dir. Die Watte ist schwarz. Die Wiesen sind grün. Franz sucht eine Form von Deckungsgleichheit: Er schiebt alles das hier über die Vergangenheit.  Er will, dass die Vergangenheit noch einmal stattfindet. In anderer Besetzung. Die Vergangenheit ist wie eine Wundsalbe. Die möchte er großflächig auftragen. Von hier stammt das Glück. Das Glück ist Grün und duftet nach Kuhmist. Franz ist mit Armstrong auf dem Mond gewesen, mit Kennedy in Berlin, er war dabei, als das Farbfernsehen angeschaltet wurde – er ist einer aus einem vergangenen Jahrhundert. Franz hat Armstrong vergessen und das Gefühl, wie es war, als er den Mond betrat. Franz hat viel vergessen, aber diese grünen Wiesen und die Berge: das hat er sein Leben lang nicht vergessen können. Als Franz mit dem Auto auf den karg’schen Hof fährt, weiß er es, und kann es niemandem sagen. Was sagt man denn? Franz möchte, dass eine Woche lang die schwarze Watte aus seiner Seele verschwindet. Eine Woche möchte er ohne die Watte sein. Eine Woche, ohne an den Krater zu denken, die weißen Handschuhe – den letzten Augenblick des Franzlebens. Eine Woche will Franz dem Kuhmist folgen und morgens beim Aufstehen die Riesen vor dem Fenster finden. Kripfelgeuze. Hier wird die Zeit zu einem Teil der Franzfamilie. Das alles hier ist auf eine angenehme Weise nicht konkret. Es gibt kaum konkrete Erinnerung an das Hiersein. Es ist alles nur so ein Gefühl, das ihn langsam anfüllt. Eins von den Gefühlen, die Franz keine Angst machen. Eins von den Gefühlen, die schwarze Watte vertreiben. Er wird Kuhaugen zählen und an alte Filme denken. Peter Kraus mit Conni Froebess in einem Boot auf einem Bergsee.