Der
Punkt
Unser kleiner Bahnhof hat
zwei Bahnsteige: Einen für hin und einen für zurück. Da laufen einfach
zwei Gleise, und dann steht da noch ein Häuschen zum Warten. Wenn
man auf den Bahnsteig geht – ganz bis an den Rand – , kann man
sehen, wie die Gleise langsam davonschwimmen – immergeradeaus – und
sich in einem Punkt verlieren. Früher dachte ich: Da, wo sich die
Gleise treffen, hört die Welt einfach auf. Wenn ein Zug vorbeifuhr,
habe ich die Menschen darin beneidet. Wenn der Zug über den Punkt
fährt, dachte ich, wissen die alle, wie es dahinter aussieht: Hinter
der Welt.
Dann kam meine erste Zugfahrt. Vater nahm mich mit. Der Zug fuhr eine
halbe Stunde und hat zwischendurch mehrmals gehalten. Ich dachte
jedesmal: Jetzt kommt der Schaffner und sagt, dass es nicht mehr
weitergeht. Aber jedesmal war da auch nur so ein kleiner Bahnhof. Und
es stiegen jedesmal auch Leute ein. Die wollen es auch alle sehen,
dachte ich.
Dann sind wir ausgestiegen – Vater und ich. Der Zug fuhr weiter. Er
fuhr einfach davon, und ich sah ihm nach. Er fuhr genau bis an den
Punkt – und war ... verschwunden. Und ich war traurig, weil ich so kurz
vorher aussteigen musste.
Heiner Frost
Erstellt: 03.06.2010, letzte Änderung: 03.06.2010